



© Foto: Renate Hollermann/pp/Agentur ProfiPress
Herzlich willkommen im Pastoralen Raum Mechernich
Herzlich willkommen im Pastoralen Raum Mechernich
Pogrom-Gedenkgang mit Beteiligung von Gymnasium, Gesamtschule und evangelischer Kirche - Neue Stele an zerstörter Synagoge eingeweiht – Erinnerung an verfolgte und getötete Nachbarn sowie große Verantwortung
Mechernich – 10. November 1938, Rathergasse in Mechernich: Der Motor eines Traktors schreit auf. Ein dumpfer Schlag, als Eisen auf heiliges Mauerwerk trifft. Fenster bersten und buntes Glas regnet in tausenden Splittern auf das Kopfsteinpflaster. Die Reichspogromnacht, Höhepunkt eines lang gereiften und geschürten Judenhasses, macht auch vor dem kleinen Bergarbeiterdorf in der Eifel nicht halt.
Es ist unter anderem die Synagoge, Zentrum des jüdischen Lebens im Stadtgebiet, die Ziel des blinden Hasses wird. Davor: Stiefel, Mäntel, Schatten. Manche lachen, manche schweigen – doch alle sehen zu, während weitere jüdische Geschäfte, Häuser und Wohnungen angegriffen und zerstört werden. Aus Nachbarn und Freunden wurden in nur einer Nacht (Mit-)Täter.
Exakt 87 Jahre später standen rund zweihundert Menschen an genau dieser Stelle. Sie gedachten den Männern, Frauen und Kindern, die aus Mechernich fliehen mussten, verschleppt oder getötet wurden – nur, weil sie Juden waren. An sie erinnert ab sofort eine Stele, die im Rahmen des jährlichen Pogrom-Gedenkganges eingeweiht wurde. Von hier führte er ins Foyer des Gymnasiums Am Turmhof (GAT), dann weiter über die „Eifelpassage“ bis vor das Rathaus. „Es war ein ganz besonderer Abend“, wie eine Anwesende betonte.
„Rechtzeitig handeln“
Initiator Franz-Josef Kremer organisiert das Ganze seit 1999: „Der Gedenkgang erinnert an die Verbrechen des NS-Regimes von 1933 bis 1945 – und mahnt, die Zeichen zu erkennen, wenn Freiheit, Demokratie und Menschenrechte heute bedroht sind.“ Auch warnte er vor innerdemokratischer Zerstrittenheit, die sich heute wieder zeigt: „Uneinigkeit hat die Weimarer Republik geschwächt. Wer glaubt, Rechtsradikale erledigten sich von selbst, irrt. ‘Nie wieder’ heißt, rechtzeitig zu handeln.“
Die Arbeitsgruppe „Forschen – Gedenken – Handeln“ machte das Mahnmal möglich. Gisela Freier, die die Gruppe mit Ehemann Wolfgang, Rainer Schulz und Elke Höver betreibt, erklärte den Grund für die Neugestaltung: „Der alte Stein lag versteckt zwischen Autos – unscheinbar, mit einer Inschrift, die das Geschehene nicht beim Namen nannte. Heute nennen wir es klar: Die Mechernicher Synagoge wurde am 10. November 1938 zerstört – von auswärtigen Tätern und Bewohnern der Stadt.“
Freier fragte, „welche Mechanismen aus ganz normalen Nachbarinnen und Nachbarn Täter machen“, und schloss: „Wir können nur lernen, wenn wir anerkennen, dass in vielen Familien Täter waren. Wir sind die Nachfahren – wir müssen verhindern, dass so etwas wieder möglich wird. Es gibt Untaten, über die kein Gras wächst.“
„Stimme erheben“
Bürgermeister Michael Fingel knüpfte daran an: „Solche Zusammenkünfte machen traurig und nachdenklich – aber auch hoffnungsvoll, weil so viele, gerade junge Menschen, nicht vergessen wollen.“ Er zitierte seinen Großvater, der Kriegsgefangener in Russland war: „‚Es ist leicht, eine Entscheidung zu treffen – schwer kann es sein, damit zu leben.‘“ Fingel leitete daraus eine Gegenwartsaufgabe ab: „‚Die Stimme erheben und handeln, wo Unrecht geschieht.“ Und er versprach, die Arbeit der vergangenen Jahre weiter zu unterstützen: „Sie ist mir auch persönlich sehr wichtig.“
Ebenso war Alt-Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick mit von der Partie: „Hier stehen wir ziemlich genau dort, wo die Synagoge einst stand – mitten in der Stadt. Das sagt viel aus: Jüdisches Leben war seit Jahrhunderten in Mechernich integriert.“ Zur Inschrift von 1988 bemerkte er, dass diese „in einer Zeit entstand, in der viele Zeitzeugen und ehemalige Parteigänger noch lebten – man tat sich schwer, Schuld beim Namen zu nennen“. Er schloss mit einem Zitat der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer: „Seid Menschen.“
Gespräch mit Sophie Scholl
Im Foyer des Gymnasiums Am Turmhof inszenierten Schülerinnen ein Gespräch mit „Sophie Scholl“, die mit der Gruppe „Weiße Rose“ Widerstand gegen die NS-Diktatur geleistet hatte und dafür hingerichtet wurde. So hieß es: „Schweigen ist schlimmer als Angst.“ Und: „Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen – auch wenn es der Staat begeht.“ Die Botschaft, besonders an junge Menschen: „Hört nicht auf, selbst zu denken. Wenn etwas Unrecht ist, steht auf – auch wenn niemand mit euch steht.“
Eine zweite GAT-Gruppe ließ Steine sprechen – als Sinnbild für die Unantastbarkeit der Menschenwürde: „Jeder Stein ist ein Unikat – wie jeder Mensch. Im Nationalsozialismus wurden Unterschiede zur Entmenschlichung genutzt. Heute mahnen uns diese Steine, Vielfalt zu achten und niemandem Steine in den Weg zu legen, der die Welt besser machen will.“ So bekam jeder ein eigenes Exemplar mit auf den Weg.
Vor der Eifelpassage, wo die Jüdinnen Jenny und Lina Kaufmann ein Modegeschäft führten – „ein ganz normales Kaufhaus, in dem Menschen einkauften, redeten, lachten“ - versuchte eine Gruppe der Gesamtschule nachzuvollziehen: „Wie fühlt es sich an wenn alles, was Du aufgebaut hast, in einer Nacht verschwinden würde?“ Als die Schrecken jener Nacht passierten, half ihnen niemand. Man sah nur zu. „Diese Passivität tut fast noch mehr weh als die Gewalt. Wir sagen: Nie wieder schweigen, nie wieder wegschauen - für alle, die heute jemanden brauchen.“ Zugleich kündigte die Schule an, sich für neue Stolpersteine zum Gedenken an die jüdische Familie Kaufmann einzusetzen; Spenden- und Kontaktmöglichkeiten gebe man noch bekannt.
Die Evangelische Kirchengemeinde schilderte bei der letzten Station vor den Toren des Rathauses Eindrücke einer Exkursion in das ehemalige Konzentrationslager „Mauthausen“: „Die ‚Todesstiege‘, die Namen der Ermordeten, die Enge des Steinbruchs – unvorstellbar.“ In Linz erlebten die Teilnehmenden Gedenktafeln mit Klingeln: „Man klingelt – zur Erinnerung daran, wie die SS Menschen aus ihren Wohnungen holte. Und zugleich, weil es Nachbarn waren, Freunde.“ Zur Veranschaulichung hatten sie ein solches Klingelschild neben sich aufgestellt. Am Ende lud man zum gemeinsamen Gebet ein: „Mach uns sensibel gegen alle Formen von Hass – auch wenn er sich bürgerlich tarnt.“
„Bitte, tut alles dafür…“
Zum Abschluss erinnerte Sabine Henze, die sich immer wieder für Demokratie in Mechernich einsetzt, an mehrere Begegnungen mit einer Auschwitz-Überlebenden, die im dortigen Mädchenorchester gespielt hatte: „Sie sagte zu mir: ‚Ihr seid nicht schuld – aber bitte, tut alles dafür, dass es nicht wieder passiert.‘“
So liefen an diesem Abend viele Fäden zusammen: die neue Stele am historischen Ort, junge Stimmen, die Würde buchstäblich in die Hände legten, die Bereitschaft zweier Schulen, Verantwortung zu übernehmen – und der Appell, „nie wieder“ als Handlungswort zu begreifen. „Danke für die große Beteiligung“, sagte Kremer: „Ich hoffe, dass wir uns im nächsten Jahr wiedersehen. Vielleicht sogar mit vielen weiteren Menschen.“
Rainer Schulz dankte allen, die die Stele möglich gemacht hatten: „Ein besonderer Dank gilt dem Bauhof für die Installation und Jannis Müller von der Firma „Willi Müller“ aus Hostel für das handwerkliche und künstlerische Können. Danke auch an Stadtarchivar Stefan Meyer – und für 20 Jahre verlässliche Unterstützung an Alt-Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick. Diese Verlässlichkeit hat uns immer wieder Rückenwind gegeben.“
Die erste Stele in Mechernich, die nun Teil der neuen ist, wurde 1988 eingeweiht – auf Anregung von Hans-Peter Arntz, drei Jahre nach einem ersten Mahnmal in Kommern. Schon in seiner Rede damals thematisierte er das Ringen um Worte, die Nähe der Täter- und Zuschauergesellschaft und die Mahnung, sich zu erinnern. Die neue Stele führt dies fort – deutlicher, sichtbarer und endlich am richtigen Ort.
pp/Agentur ProfiPress